Die Meistergeige

Alles was uns im Leben begegnet und inspirierte

Die Meistergeige

Beitragvon Alfons » 24.09.2010, 21:09

Die Meistergeige

Meine Eltern waren überzeugt, daß sich die Kinder musikalisch betätigen sollen. Wir lebten in bescheidenen Verhältnissen und konnten uns keine teuren Musikinstrumente leisten. So begnügten wir uns damit, zweistimmig Volkslieder oder Kirchenlieder zu singen. Schließlich kaufte man meiner Schwester, die etwas älter war als ich, eine Zither, ich aber sollte lernen, die Geige zu spielen.

Mein Onkel war Organist; als er von dem Vorhaben erfuhr, schenkte er mir alsbald eine Geige. Aus Sparsamkeit wurde diese nicht in einem Holzkasten, sondern in einem Sack aus grünem Tuch verwahrt. Das hatte den Nachteil, daß man auf dem Gang zum Musiklehrer überall als das Lind armer Eltern angesehen wurde, wenigstens hatte ich das bestimmte Gefühl, daß mich viele Leute als arm betrachteten, nur weil mein größter Reichtum, die Geige, in einem armseligen Futteral geborgen war.

Vielleicht war dieser Umstand einer der Gründe, warum mir das Spielen auf der Geige nicht so recht gelingen wollte. Wer das edelste aller Instrumente schon in jungen Jahren mit Hemmungen, statt mit uneingeschränkter Liebe betrachtet, wird sich nie über die unsäglichen Schwierigkeiten der ersten Geigengriffe und Bogenführung hinweg zu einer freien Tongebung aufschwingen können.

Die Jahre vergingen. Ich war volljährig geworden, die Schülergeige aber lag vergessen und verstaubt in einer Ecke. Eines Tages erschien in meinem Elternhaus ein bettelnder Zigeuner, der sich erbot, seine Geige für geringes Geld zu verkaufen. Meine Mutter bangte um unser Hab und Gut, als sie den Gesellen mit dem wirren Haar gewahrte und drängte, ihn mit einem Geschenk zu verabschieden. Zu ihrem Entsetzen holte ich meine Fiedel hervor und verglich sie mit der seinen. Eine Kindervioline war für mich, so überlegte ich, ohnehin nicht mehr zeitgemäß, sein Instrument aber war größer und obendrein von schönerer Farbe mit ehrwürdig dunkler Tönung, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Als der Zigeuner mit ausladenden Bewegungen seine Violine strich, um ihre Vorzüge zu demonstrieren, sträubte sich sein gestutztes Schnurrbärtchen gar gewaltig. Bald wußte ich nicht mehr, ob es die gewaltsamen Töne waren, die mich hinrissen oder sein fanatisch dunkler Blick, mit dem er mich herauszufordern, ja, zu unterjochen schien. Er war einem Tausch nicht abgeneigt und fragte nur, was ich ihm außerdem noch geben könnte.



Als ihm ein Hut angeboten wurde, der wenig gebraucht war und mir nicht passen wollte, sah er diesen begierig an, verlieh ihm mit wenigen entschiedenen Handgriffen ein abenteuerliches Aussehen und besah sich zufrieden im Spiegel, als er mit diesem kühnen Gebilde sein nicht weniger kühnes Haupt bedeckt hatte. Der Handel war bald geschlossen und erst, als der Zigeuner zur Erleichterung meiner erschreckten Mutter abgezogen war, dämmerte mir eine Ahnung, daß ich ein vertrautes Stück meiner geborgenen Kindheit leichtfertig verloren und dafür etwas in Händen hatte, das unbekannt, von Geheimnis umwittert und abenteuerlich erschien.

Die Jahre vergingen. Vom Geheimnis und Abenteuerlichen des Lebens verspürte ich manches, wenn auch die Geige in einer Ecke ihr kümmerliches Dasein fristen mußte, ohne gespielt zu werden. Ich hatte sie, als ich heiratete, in mein neues Heim genommen, obwohl sie nichts als unnütz für mich war.

Eines Tages öffnete meine Frau den Kasten, in dem die ominöse Geige ruhte und war entschlossen, den verstaubten Gehäuse mit dem Staubsauger energisch zu Leibe zu rücken. Mit geborstenen Saiten lag es da, das fast vergessene Instrument. “Die Geige wird noch ganz verkommen, wenn sie nur herumliegt”, sagte sie, “wäre es nicht besser, sie zu verkaufen?”

“Meinetwegen”, erwiderte ich, “es lohnt sich kaum, man bezahlt nicht viel.”

“Wer weis”, meinte sie und sah neugierig durch die Schallöcher in den Leib der Geige, “hast du gelesen, was auf dem Zettel steht, der da drinnen aufgeklebt ist?”

“Jakob Stainer.”

Mit raschem Griff schlug sie im Lexikon nach: “Stainer Jacob, ein berühmter Geigenmacher, geboren am 14. Juli 1621 in dem Dorf Absom in Tirol, bildete sich in Cremona in den Werkstätten der Amati und heiratete auch eine Tochter Nicolo Amati’s. Darauf ließ er sich in seinem Geburtsdorf als Geigenmacher nieder. Nahrungssorgen zwangen ihn anfangs, sehr schnell zu arbeiten, da er für eine Geige selten mehr als 6 fl erhielt. Um 1650 begann sein Ruf sich zu verbreiten und von vielen Höfen liefen Bestellungen ein. Er konnte nun bei besseren Preisen auch mehr Sorgfalt auf seine Arbeiten verwenden. Nachdem seine Frau gestorben, zog er sich in ein Benidiktinerkloster zurück und verfertigte dort noch 16 Geigen, die das Beste waren, was er je geliefert und die er teils dem Kaiser teils den deutschen Kurfürsten übermachte. Von diesen berühmten sogenannten Kurfürstengeigen ist wenig erhalten. Er starb im Kloster 1683.”

“Jakob Stainer!, wiederholte sie überlegen, “dann ist also die Geige von diesem berühmten Meister gebaut worden.”

“Meinst du?”

“Warum nicht? Eine Meistergeige ist es also.”

“Oder eine ganz gewöhnliche Fälschung. Der Zettel besagt nichts.”

“Man kann nie wissen.”

“Was ich weis, ist, daß ich das Ding um eine Kleinigkeit erworben habe. Noch dazu von einem Zigeuner.”

“Wer weis, wo er sie gestohlen hat.”

“So geben wir sie an den zurück, dem sie gehört.”

“Wenn wir ihn finden.”

Es dauerte nicht lange, da war die Geige verschwunden. Ich hätte sie kaum vermißt, wenn nicht bald darauf meine Frau mit geheimnisvoller Miene erzählt hätte, daß sie wahrscheinlich echt sei. Allerdings müsse sie noch von einem auswärtigen Kenner begutachtet werden. Es sei richtig, daß der Zettel im Innern der Geige nicht viel zu bedeuten habe, aber gewisse Merkmale würden auf meisterliche Eigenschaften hinweisen.

In den folgenden Tagen herrschte freudige Stimmung im Hause.

Verborgene Wünsche, die bisher unterdrückt worden waren, traten offen ans Tageslicht. Es gab so viele Dinge anzuschaffen, die zwar nicht unbedingt nötig, aber zu schön waren, um sie nicht für wünschenswert zu halten. Und außerdem: Saß man nicht ständig zu Hause, wo es an sich ganz gemütlich war? Eine Reise nach dem Süden wäre der Gipfel der Lust.

“Eine Geige von so hohem Wert gehört einzig und allein dem rechtmäßigen Eigentümer”, wendete ich sorgenvoll ein.

“Nach so langer Zeit wird sich niemand melden”, kalkulierte sie, “übrigens ist es durchaus denkbar, daß auch unter Zigeunern ein wertvolles Instrument zu Hause war. Sie wußten nur nicht, welchen Schatz sie besaßen.”

“Abwarten!” beendete ich die Zukunftsmusik.

Abwartend konnte ich nicht umhin, von einem Musikschrank zu träumen und von Schallplatten der teuersten Sorte. Unvorsichtig, wie ich war, bekannte ich meine geheimen Wünsche. Doch ich fand wenig Verständnis. Ich wurde zwar getröstet mit dem Hinweis, daß meine Wünsche nicht übel seien, doch müßten sie noch zurücktreten, solange man nicht das Dringendste angeschafft habe. Es war schwer zu entscheiden, was eigentlich am wichtigsten war. Alles konnte man nie haben und auf weniges konnten wir uns nicht einigen.

Die Einigkeit, die uns bisher so glücklich machte, schien verflogen. Dahin war die freudige Stimmung, das friedliche Einvernehmen, die selbstverständliche Zufriedenheit. Bohrendes Mißtrauen stand auf und gab allen vertrauten Dingen der Häuslichkeit ein seltsam düsteres Gepräge. Das Geplätscher der heiteren Wechselreden war verstummt und jedes Wort wog jetzt schwer wie Blei.

Langsam zogen sich die Gewitterwolken am Himmel des Familienkreises immer drohender zusammen und unwillkürlich wartete ich mit Ungeduld auf den reinigenden Blitz. Doch kam es nicht zu Sturm und Donnerrollen, denn eine Nachricht genügte, um die bedrängenden Horizonte aufzuhellen. Das Gutachten des Kenners war endlich eingetroffen. Sachlich und nüchtern kündete es die Gewißheit, daß die vermeintliche Meistergeige das unbedeutende Produkt der gewohnten Serienherstellung war und nichts weiter. -

Was sind Wünsche? Wo sie auftauchen, läßt die Enttäuschung nicht lange auf sich warten. Doch heilsam ist diese, wenn Vernunft und guter Wille sie begreift.

Ein Mann aus der Nachbarschaft mußte von unserem lächerlichen Erlebnis gehört haben. Er kam eines Tages und versuchte uns zu trösten. Vor Jahren habe er eine wirkliche Meistergeige besessen, ein Familienstück. Schon seine Vorfahren hätten sie gespielt, nicht nur zum Gesang ihrer Kinder, sondern auch Sonntags in der Kirche, wenn die Gemeinde sich im Gesang vereinte. Viel sei ihm geboten worden, wenn er sie verkaufen wolle, doch er habe nie daran gedacht, das Heiligtum der Familie gegen schnödes Geld zu vertauschen. Jetzt sei er arm und habe alles im Bombenhagel des Krieges verloren, auch seine Geige.

“sehen Sie”, meinte er, “mein Besitz tut mir nicht leid, er bedeutet mir nichts mehr und selbst eine Geige, die man mit Gold aufwiegen kann, ist nicht alles, wenn ...”

“Wenn was?” fragten wir, als wir sahen, daß seine Augen wie erloschen in die Ferne sahen.

“Ja wenn ......, wenn man mehr verloren hat als das.”

“Noch mehr verloren?”

“Meine Frau und meine lieben Kinder, auch sie gingen mir im Feuer jener Nacht verloren.”

Wir schwiegen.

Nach einer Weile besann er sich, weiterzusprechen. “Seitdem weis ich, daß die Worte, die aus unschuldigen Kinderkehlen ertönen, ungleich wertvoller sind als das, was wir dem Holz eines Instrumentes entlocken können. Lebendiges Leben, das ich verloren, kann mir niemand wiedergeben, auch wenn ich noch so viel besitzen würde.”

War es nun an uns, zu trösten? Wir fühlten uns hilflos. “Und doch”, stammelte ich, “wenn Bach oder Mozart oder Beethoven ertönt, von Händen, die berufen sind, ist da nicht auch Leben, höheres Leben.”

“Ein Trost ist solche Musik, gewiß”, sagte er ernst. “Daß es solche Musik gibt, läßt uns ahnen, daß über uns hinaus etwas ist, was sich nicht begreifen läßt. Wir fühlen uns erhoben und verspüren, wenn wir uns diesen Klängen hingeben, etwas ...”, er stockte verlegen, “.... etwas vom göttlichen Anhauch.”

Entschlossen nahm er die Geige und wog sie prüfend in seinen feingliedrigen Händen. Dann stimmte er die Saiten, straffte den Bogen und besinnlich klemmte er die Geige an sich. Leise Töne atmeten auf, federnd schwollen sie an und staunend vernahm ich ein feierliches Adagio von Mozart. Nie hätte ich geglaubt, daß aus meinem armseligen Instrument ein solches Lied erklingen könnte.

Mit einem Knall riß plötzlich eine Saite und gab das Zeichen, das Spiel zu enden.

“So ist es mir ergangen” sagte der Mann, “ein Knall und es war zu Ende. - Die Saite ist gerissen, ich werde sie bezahlen, wenn ich im nächsten Monat wieder verdiene.”

“Nicht nötig”, sagte ich, “der Trost, den Sie uns spendeten, ist mehr.”

“Dann will ich wieder nach Hause gehen. Es ist zwar keine Meistergeige, was Sie da besitzen, das kann ich mit gutem Gewissen sagen. Doch wäre mancher froh, wenn er sie besitzen könnte.”

“Mancher? Und Sie, haben Sie denn ein halbwegs brauchbares Instrument?”

“Noch nicht. Es könnte sein, daß ich mir bald eines anschaffe.”

“Warum nicht jetzt?”

“Hm. Man muß sparen. Das Leben zu fristen, kostet genug, ich bin nicht mehr kräftig genug, um mehr zu verdienen, als was man zum Nötigsten braucht. Älter wird man und was dann?”

“Ja, was dann”, meinte ich schüchtern, “dann ist Musik mehr denn je nötig für Sie; denn Sie sind ein Meister auf der Geige.”

“Leider nicht, dazu bin ich nicht mehr jung genug. Meine Hände werden zuweilen schwach und dann spiele ich jämmerlich.”

“Was mich betrifft, bin ich nur ein Stümper auf der Geige, unnütz liegt sie bei mir in der Ecke. Bei Ihnen aber wäre sie in guten Händen.” Ich verlangte, daß er sie behalten solle. Sie zu schenken wagte ich nicht, er hätte sich dazu nicht bereit gefunden. Wir einigten uns auf einen angemessenen Preis, der zu bezahlen sei, wann es ihm beliebe.

Lange blickten wir ihm nach, als wir ihn in der beginnenden Nacht zum Gartentor begleitet und ihm dort zum Abschied die Hand gereicht hatten. Bewegt flüsterte meine Frau: “Siehst du, wie er die Geige im Arm hält? Fast wie eine Mutter ihr Kind, das es zu behüten gilt.”

Langsam schritt er den jenseitigen Hügel hinauf und verschwand im Dunkeln.

Alfons Burger (1953/54)
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