Kunst des Schattenspiels

Alles was uns im Leben begegnet und inspirierte

Kunst des Schattenspiels

Beitragvon Peter » 13.11.2010, 03:01

Kleiner Ausschnitt aus „Kunst des Schattenspiels, 1994-1997“ von Luise Rinser, ISBN 3-10-066052-8

Mein Münchner Ostersonntag. Alle Freunde sind auf dem Land, das Wetter ist strahlend frühlingshaft nach all dem Regen. Ich bin allein. Plötzlich überfällt mich das Verlangen mich ins „bunte Gewimmel“ zu werfen. Also in die Stadt. Was will ich dort? nichts als „dabei sein“. Nicht allein sein. In der Unterführung der S-Bahn spielen zwei junge Arbeitslose mit einem Hund. „was sollen wir sonst tun“ sagt der eine, und der andere sagt: „Wohin sollen wir gehen? Wir haben keine Unterkunft. Wir schlafen nachts hier.“ Er zeigt auf Schlafsack und Kleiderbündel. Ich schenke ihnen Geld für den Hund, ein schönes, aber mageres Tier, und rede eine Weile mit ihnen. Ich erinnere mich, wie ich in Paris zum erstenmal mit Entsetzen und romantischem Mitleid die Clochards unter den Seine-Brücken sah. Das war vor vierzig Jahren. Wie viele Obdachlose sah ich seither: in New-York, in Delhi, in Rom, in Bangkok, in Jakarta ... Ich will mich nicht traurig machen am Ostersonntag. Ich gehe weiter. Ich sehe in der Kaufingerstraße eine Gruppe Bolivianer, sie singen und tanzen, und mir kommt lebhaft die Erinnerung an meine Südamerika-Reise und meine Begegnung mit den Indios in den Anden, auf 4000 Meter Höhe; dort waren es Minenarbeiter in den einstigen Silber-Bergwerken. Wo ist das Silber? In Spanien. Und in den Häusern der Reichen in La Paz. Ich sah es. Und ich sehe die hundert und aberhundert Indios auf dem Friedhof da oben auf dem Altoplano, da liegen die Bergleute, und kaum einer ist älter als fünfunddreißig geworden.
Ich gehe weiter auf der Neuhauser Straße. Ich höre Musik, klassische, ein Magnet für mich, unwiderstehlich. Bach. Eins der Violin-Konzerte, umgeschrieben für Violine, Bratsche und ein tragbares kleines Cembalo. Der Platz unter den Bögen des Kaufhauses hat eine gute Akustik. Die drei Instrumente klingen wie ein Orchester. Vor den Dreien ein andächtiges Publikum, zufällig hier vorbeikommend, gebannt wie ich. Stille. Die Straße wird zum sakralen Raum. Die Szene ist zum Weinen und Beten schön. Die Zuhörer gehen leise weg, ungern, man sieht es. Viele bleiben. Auch ich bleibe, bis die Musiker ihr Spiel beenden. Wer sind sie? Ich sehe im aufgeschlagenen Deckel des Violinkastens einen Zettel: „Drei Musiker aus Sibirien.“ Ich wage näherzukommen. Einer spricht Englisch. Woher kommen sie? Aus Omsk? (Das ist DIE Kunst-Stadt Sibiriens, sie hat drei Opernhäuser.) Nein, sie sind aus Novo-Sibirsk. Ich sage, daß ich schon dort war auf einem Flug Korea-Moskau. Es ergibt sich ein fragmentarisches Gespräch. Sie wundern sich weniger darüber, daß ich in Novo-Sibirsk war (wer kommt schon dorthin), als darüber, daß ich ihnen Fragen stelle, welche ihre Technik, Bach zu spielen, betreffen. Ob ich Musikerin sei? Nein, aber ich verstehe einiges von Musik (habe Geige gelernt) und außerdem sei ich die Frau eines Musikers gewesen, er hieß Carl Orff. Ein Freudenschrei: „Carmina Burana!“ Man kennt ihn wirklich in aller Welt. Wo überall habe ich seinen Namen und sogar seine Musik gehört: zwischen Kalifornien und Japan, und sogar in Südchina, wo man in Setchuan eine Orff-Musikschule eröffnete, als ich dort war. Lieber C.O. - und einmal wollte man dich in München aus der Musikhochschule werfen, und die deutschen Kritiker beurteilten dich als Exzentriker, als Erotomonanen und als “nicht aufführbar“ .... und jetzt liegst du eingemauert in Andechs. Was für eine Musik hörst du jetzt?
Ich gehe weiter, zum Marienplatz. Was für eine Menge ..............................


- Warum dieser Ausschnitt? Muß einfach dazusagen, daß mich diese Geschichte selber stark angesprochen hat und hier fühle ich voll mit Luise Rinser, die für mich keine Fremde ist. Wir sind uns mehrfach begegnet, hatten zeitweise einen Schriftwechsel und sie gehört mit zu meiner Lebensbiografie. Eine große „deutsche Schriftstellerin“, die weltweit bekannt wurde und neunzigjährig die Essenz ihres sprachlichen Lebens in solchen Geschichten niederschrieb. 1994 reiste sie nach Dharamsala, auf Einladung des Dalai Lama, der eine Woche lang sich täglich zu Gesprächen mit ihr traf. Auch diese Begegnung ist in diesem Buch beschrieben.
Auf der Cover-Rückseite folgendes Zitat:

„Kann ich sagen mein Leben sei Leiden gewesen? Nein, nein. Es war schwer, aber es war reich, und es gab Glückszeiten. Es gab? Es gibt.“
Zuletzt geändert von Peter am 30.10.2017, 23:20, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Kunst des Schattenspiels

Beitragvon Peter » 11.12.2011, 16:48

Bekam heute ein Email aus meiner Geburtsstadt Landsberg am Lech von einem früheren Oberbürgermeister, welcher mir mitteilte, dass ein Aufsatz von ihm über die Schriftstellerin Luise Rinser im Januar 2012 in den Geschichtsblättern des historischen Vereins Landsberg zum 850jährigen Stadtjubläum erscheinen wird.
Diesen Aufsatz habe ich etwas überarbeitet, da ich zu Luise Rinser zeitweise engen Kontakt hatte und sie auch mal mit meiner Mutter bekannt machte. So kommt nun Mutter posthum noch zu Extraehren, was sie zu Lebzeiten sicher sehr gefreut hätte.
Das berührt mich heute gerade in der Tiefe meiner Seele. Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit welche mich mit vielen Erinnerungen verbindet.

Derzeit lese ich die grosse Biografie über Luise Rinser - Ein Leben in Widersprüchen (Verlag S. Fischer) welche der spanische Philosoph und Mönch Jose Sanchez de Murillo schrieb, der in den letzten Lebensjahren von Luise Rinser mit dieser gut befreundet war. Sie besuchte ihn oft in Ronda und erzählte mir darüber auch in zwei Briefen.

Spuren des Lebens, welche ich beschritten, nun weiterführen in die Geschichte von Sammlungen und Archiven.
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Re: Kunst des Schattenspiels

Beitragvon Peter » 03.05.2012, 20:51

Wer war Luise Rinser?
Widersprüchliches Bild in der Öffentlichkeit

Wer war Luise Rinser? Eine geborene Erzählerin, die Grande Dame der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur, sagen die einen, eine Plaudertasche und feministische Krawallschachtel mit dubioser Vorliebe für Nordkorea, die anderen.

Albert von Schirnding, Kritiker bei der "Süddeutschen Zeitung", sieht in ihr eine "Jahrhundert-Autorin", eine bedeutende literarische Figur und eine Frau von großem Format, Tilmann Krause von der Tageszeitung "Die Welt" wiederum betrachtet Luise Rinser als "große starke Persönlichkeit von einer spirituell überglänzten Erotik". Engagierten Christen wurde sie zum Vorbild, Abgeklärten dagegen zum öffentlichen Ärgernis.

Im Gegensatz zu ihren Lesern, die Luise Rinser von Anfang an unverbrüchlich die Treue hielten, wahrte die Literaturkritik zu der von Korea bis Kanada geehrten Repräsentantin unserer Literatur skeptischen Abstand und nannte sie wenig schmeichelhaft eine Erbauungs- und Frauenschriftstellerin, die in ihren Büchern für Zwischentöne wenig Raum und für Ironie und literarische Experimente überhaupt keinen Platz gehabt habe.

Für einige Kritiker war sie "halb Nonne, halb Barrikadenweib", weil sie angeblich den Beichtstuhl am liebsten neben der Barrikade installiert hätte, und empfanden ihre Offenheit und ihre erotischen Geständnisse als Exhibitionismus. Sie warfen ihr Geschwätzigkeit, Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit vor sowie einen Hang zum moralinhaltigen Narzissmus. Nicht wenige misstrauten ihren hochgespannten Gefühlen, ihrem Pathos und moralischem Impetus und sagten ihr Bigotterie nach oder rügten den hohen Ton ihrer Romane, Tagebücher und besonders ihrer Selbstdeutung "Den Wolf umarmen".

http://www.ursulahomann.de/WerWarLuiseRinser/komplett.html
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