Hans im Glück
In den Sommermonaten liebe ich es am Abend im Bodensee zu schwimmen. Immer ab neunzehn Uhr bis zum Sommeruntergang zelebriere ich dies wie ein Ritual, weil ich mich im Wasser leicht und frei fühle und am Ufer sitzend die Landschaft, Wellen und Boote beobachte. An meine Lieblingsstelle in Sipplingen kommen abends häufig die gleichen Leute und man begrüßt sich jeden Sommer wie alte Bekannte und so mancher nette Plausch erzählt etwas über den Alltag, das Wetter und über Lebensgeschichten.
Dieses Jahr traf ich dort den siebzigjährigen Holländer Hans van der Gülik, den ich spontan Hans van der Glück nannte, obwohl er sein Leben nicht unbedingt glücklich empfindet. Aber er strahlt eine geheimnisvolle Fröhlichkeit aus, wenn er nicht gerade in die tiefe Trauer über seine vor wenigen Monaten verstorbene Schwester verfällt. Diese hat er wie eine Zwillingsschwester geliebt und vermißt diese nun sehr. Es ist wie bei der Trennung von Ehepaaren nach einem gemeinsamen langen glücklichen Leben. Denn als Hans sieben Jahre alt war verließ seine Mutter die Familie und die um ein paar Jahre ältere Schwester trat an deren Stelle und übernahm für Hans den weiblichen Part in seinem Leben. Denn seine eigene Ehe hielt nur zwei Jahre, da seine Frau ihn ähnlich plötzlich verließ, wie vorher die Mutter. Trotz dieser schmerzhaften Einbrüche im Leben hat er nun im Alter eine ausgeglichene Ausstrahlung auf andere Menschen, wessen er sich selber gar nicht bewußt ist. Seit vielen Jahren hatte er mit der Schwester eine Ferienwohnung in Sipplingen, wo diese jeden Sommer gemeinsam verbrachten. Nun ist er darin alleine, aber immer noch mit der Kleidung und den Schminksachen der Schwester. Er kann sich davon nicht trennen und diese Erinnerungsstücke auch nicht anfassen. Auf diese Weise ist diese für ihn noch da und da er weder Fernseher noch PC hat, ist er gedanklich stark in den Erinnerungen verhaftet. Was ihn berührt ist Literatur und darin ist er belesen von Schopenhauer, Kant bis Goethe. Die alten Philosophen mit ihren Weisheiten leben in ihm und er liebt die Zeit und Kultur um 1920. In seiner Heimatstadt Amsterdam kleidet er sich historisch in dieser Mode und geht damit in den Straßen spazieren. Dies liebt er über alles und irgendwie erscheint er mir wie eine Inkarnation aus jener Zeit, die nur teilweise in der Jetztzeit angekommen ist. Vieles was heute ist, sieht er kritisch, teils auch angstvoll und träumt von vergangenen schöneren Zeiten.
Unsere abendlichen Gespräche sind tiefgründig, auch wenn wir manchmal aneinander vorbei reden oder zwischen unseren Sprachen nicht die richtigen Worte oder Begriffe finden. Dennoch erspüren wir intuitiv den gemeinsamen Nenner und erahnen den Geist dessen was wir uns mitzuteilen versuchen. Für mich eine sehr schöne Begegnung, über die ich mich jeden Abend freue.
Dieser „Hans im Glück“ strahlt für mich das aus, was viele Menschen nicht mehr haben. Eine philosophische Tiefgründigkeit mit eigenen Gedanken und Sichtweisen, welche eigene Reflektion fordern. Dabei bedeutet Gülik eigentlich Jülich, wie er mir erklärte. Gülik sei der niederländische Name des deutschen Jülich, so als habe er historisch deutsche Wurzeln und sein Hang den Sommer in Deutschland zu verbringen, mag ebenso ein Teil seiner Rückerinnerung an vergangene Welten sein. Irgendwie lebt er in einer anderen inneren glücklichen Welt, welche er auch unbewußt ausstrahlt.
Welch ein Glück, das es auch solche Träumer in unserer hektischen modernen Welt gibt, die sich an schönen Landschaften erfreuen, zu tiefgründigen Gesprächen fähig sind und bei alledem etwas liebenswürdiges ausstrahlen, was magisch all jene anzieht, die einen ähnlichen Geist in sich tragen oder dies dringend für sich benötigen. Anderseits braucht er jetzt bodenständige Menschen um sich, da nun ohne die ihn mitragende Schwester er sich verloren fühlt, Angst hat in bodenlose Depressionen zu verfallen. Aber das Leben führt ihm diesen Ausgleich schon zu, da er gute Schutzengel hat und auch der Geist der Schwester ihn weiter beschützend begleitet. Dies spüre ich bei ihm und bin mir sicher, das er noch einige glückliche Jahre vor sich hat und noch schönes erleben wird. Meinem „Hans im Glück“ wünsche ich es von ganzem Herzen und genieße die Tage wenn wir uns mitten im Wasser zuwinken und ich seinen holländischen Dialekt höre, in dem ich zwar nicht alles immer gleich verstehe, aber die Musik dahinter höre, spüre oder erahne. Denn Worte können verwirren, aber wer den Ton dahinter hört, erhält mehr als nur Glück im Moment. Daher kann ich nur sagen, lieber Hans verbreite weiter dein Glück, vielleicht auch nur bei mir, da ich ihn in seiner Tiefe erkannt, seinen speziellen Ton liebe.
Die täglichen Begegnungen mit ihm sind nun ein Teil meines abendlichen Baderituals, mit dem ich den Tag zufrieden ausklingen lasse. Glücklich und in Frieden mit mir den Alltag abstreifend in die Tiefe der Nacht abtauchen kann. In meine Gedanken und Träume, welche Glück bedeuten und dies behutsam wachsen lässt. Die wahren Meister rennen nicht im Gurugewand umher, sondern begegnen mir im normalen Leben, wenn ich dafür wach bin und diese Perlen unter tausenden Muscheln erkenne.
Peter Burger
6.8.2015