Ritt durch die Augen

Interessante Gedanken und tiefe Erkenntnisse welche berühren

Ritt durch die Augen

Beitragvon Peter » 24.09.2010, 19:49

Ritt durch die Augen

An einem hellerleuchteten Saal steht fröstelnd ein alter Mann. Er ist auf seinem Weg nachhause und sieht durch die Fensterscheiben in den vollbesetzten Saal mit fröhlichen Menschen. Am Eingang steht eine Aufsichtsperson, die aber eher gelangweilt mit der Garderobenfrau redet. Den Alten lockt die Wärme und so schreitet er in das Hallenfoyer und strebt der Toilette entgegen. Der Aufsichtsmensch hebt den Kopf, sieht des Alten Ziel und nickt verständnisvoll.
Als der Alte erleichtert mit einem anderen Saalgast zurück kommt wird er nicht mehr als Fremder beachtet und völlig unbemerkt schleicht er in den dunklen Saal der Theke entgegen, holt sich dort ein Glas Bier. Sein Auge erspäht weit vorne im Saal noch einen Platz an den Tischen. Auf der Bühne wird gerade etwas umgebaut und eine Kapelle spielt schwungvolle Melodien. Durch das Halbdunkel dringt er nach vorn, setzt sich ohne gross zu fragen auf den freien Platz und trinkt einen tiefen Schluck mit genussvoller Zufriedenheit. Ein Mann schräg gegenüber prostet ihm zu und sagt einen Satz, der in der lauten Musik untergeht. Der Alte nickt hinüber und lächelt zum Dank. Der Platz schien für ihn reserviert zu sein, denn keiner beanspruchte ihn, keiner vertrieb ihn. Er wurde akzeptiert, als wäre er schon den ganzen Abend da gesessen. Eine kräftige Frau neben ihn, sagt mit bierselig leuchtenden Augen, „gell, der Komiker war gut“. Der Alte nickt, so als hätte er diesen auch erlebt und vermeidet ein ausführliches Gespräch. Die Frau redet weiter auf ihn ein, aber er deutet mit einer Handbewegung, dass er sie nicht gut verstehe.
Zum Glück greift nun einer zum Mikrofon und kündigt das Highlight des Abends an, die grosse Attraktion aus der Mongolei. Zwei junge gertenschlanke Kontorsionistinnen in glitzernden Kostümen betreten ein leicht erhöhtes Podest auf der Bühne und zu mongolischer Musik verrenken sich die Körper synchron in allen Variationen. Sie scheinen alles an sich verbiegen zu können, wie Gummipuppen ohne Gelenke. Alles schaut gebannt auf die minutenlange Darbietung zweier mongolischer Artistinnen.
Der Alte schaut in die Augen der beiden Hübschen und er sieht hindurch, dringt in sie und lebt darin. Wird aufgesogen mit Haut und Haaren, träumt von der Weite der Mongolei, von Steppe, Jurten und wilden Reitern, sitzt am Feuer der Nomaden. Alles das sieht er in den Augen der Mädchen und noch viel mehr.
Wie lange mag der Auftritt gewesen sein? Die fünf bis zehn Minuten erlebt er als Ewigkeit, registriert kaum den tosenden Applaus und das Ende der Darbietung. Sein Geist wandert mit den Mädchen fort, bis ihn die Frau neben sich mit dem Ellbogen stupst: „Sie haben ja gar nicht geklatscht, hat es ihnen nicht gefallen?“.
„Doch“ stammelt er und erwacht langsam aus seiner Trance. Er leert den Rest des Glases vor sich, was ihn ganz an den Tisch zurückholt. „Doch, ich sah alles, die Mädchen, die Steppe, die Pferde, die Reiter ...“. Die Frau schüttelt verwundert den Kopf und fragt etwas keck ob er phantasiere oder zuviel getrunken habe. Der Alte schüttelt verneinend sein Haupt und flüstert ihr halblaut zu: „Ich sah die Mongolei wie sie früher war zu Dschingis Khan’s Zeiten, sah tausende Reiter, den Hof mit schönen Frauen und den Artistinnen mitten drin. Die Beiden da oben sind des grossen Khan’s Erben. Sie lebten damals schon dort und sind nun wieder hier.“ Die Frau schaute den Alten total verwundert an und dieser fragte sie: „Haben sie noch nie auf einer Urlaubsreise noch nie das Gefühl gehabt, diesen Platz kenne ich, obwohl sie dort zum ersten Mal waren?“ Die Frau überlegt und nickt dann verlegen. „So ging es mir einmal in Griechenland in einem Tempel, da war es so, als hätte ich diesen schon mal gesehen. Vielleicht in einem Film oder ...“ Total irritiert schaut sie den Alten fragend an. Dieser lächelt verstehend. „Viele Menschen begegnen auf Reisen alten Plätzen wo sie schon gelebt haben. Wir alle wandern immer wieder auf den Spuren unser Vergangenheit. Das ist ganz normal und braucht sie nicht erschrecken. Mir passiert dies nicht nur an Plätzen, sondern auch in den Augen der Menschen. Sie erzählen mir Geschichten, sind voller Filme, Bilder aus vergangener Zeit, die immer noch verborgen lebt in jedem von uns. Mir müssen nur wieder das Sehen lernen, wenn wir durch Augen des Anderen in diese tiefen verborgenen Welten reiten.“
Nun wird es der Frau zuviel, erklärt sie müsse mal auf ein bestimmtes Örtchen. Tatsächlich sucht sie ihre beste Freundin, um ihr von dem seltsamen Alten zu erzählen. Als sie diese gefunden hat und diese zu dem Tisch hinzieht, ist der Alte verschwunden. Er hat sich dem drohenden Rummel der Neugierde entzogen, strebt gerade den Eingang hinaus, nun gut aufgewärmt in die kühle Nacht. Nun reitet er heim, getragen von tausenden Pferden, gefeiert wie ein grosser Held.
Sicheren Schrittes nähert er sich seiner Wohnstätte und sein Herz ist voller Dankbarkeit für den Zufall dieses Abends, der ihn völlig unerwartet überraschte.

Peter Burger
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